Dr. Ernst Albrecht – eine Würdigung

15. Dezember 2014

Quelle: Rundblick vom 15. Dezember 2014, Nr. 230 (rb) 14 Jahre, von 1976 bis 1990, hat Dr. Ernst Albrecht Niedersachsen regiert, ein Rekord. Er gab diesem Bundesland ein Profil wie kein anderer Ministerpräsident vor und nach ihm. Albrecht gestaltete Politik, er setzte Akzente und Wegmarken, die Niedersachsen noch heute prägen. Galt Niedersachsen bis dato eher als künstliches Gebilde, das fernab aus dem protestantischen Hannover regiert wurde und zu dem Oldenburger, Emsländer, Ostfriesen, Braunschweiger und Bückeburger kein richtiges Verhältnis und schon gar keine emotionale Bindung entfalteten, änderte sich dies unter Albrecht und seinem langjährigen Bundesratsminister, Innenminister und politischen Weggefährten Wilfried Hasselmann: Der „Tag der Niedersachsen“ wurde ins Leben gerufen, die Ersteigerung des Evangeliars Heinrichs des Löwen, die Aufwertung des Geschichtsunterrichts in den Schulen, das Musikland Niedersachsen, ein „NDR-Niedersachsen“. Albrecht wollte, dass Niedersachsen zu einem Land mit unbestritten eigener Identität wird. Denn Stärke erwächst aus Identität, wirtschaftliche Stärke zumal. Aus der Überzeugung heraus, dass sich Zukunftsindustrien dort ansiedeln, wo Spitzenforschung betrieben wird, forcierte Albrecht die Gründung von Forschungsinstituten, die heute aus dem Dreieck Hannover, Braunschweig, Göttingen und Clausthal nicht mehr wegzudenken sind. So war auch das seinerzeit gegründete Solarinstitut in Hameln seiner Zeit weit voraus. Es war ein Beispiel für weitblickende Energiepolitik. Wirtschafts- und Energiepolitik der Ära Albrecht daher allein auf „Gorleben“ zu reduzieren, greift zu kurz. Eine Zusage für ein großes Entsorgungszentrum mit Wiederaufarbeitung, Zwischenlager und Endlager in der Lüneburger Heide hatte es gegenüber der damaligen Bundesregierung schon von der SPD-geführten Vorgängerregierung gegeben. Niedersachsen war in den 70er Jahren zu 70 Prozent von Atomstrom abhängig. Kernenergie galt parteiübergreifend als saubere und kostengünstige Energie, während gleichzeitig die Umweltschäden fossiler Brennstoffe zunehmend und für alle sichtbar wurden und die Chancen von Solar- und Windenergie noch weitgehend unerforscht waren. Trotz oder wegen der Entscheidung für Gorleben erreichte die CDU unter Albrecht 1978 und 1982 bei den Landtagswahlen die absolute Mehrheit – und 1982 mit 50,7 Prozent den höchsten Wert, den eine Partei in Niedersachsen bis heute erzielen konnte. Niedersachsen als zweitgrößtes Flächenland in der Bundesrepublik gewann unter Albrecht auch bundespolitisch an Gewicht. Albrecht konnte für sich verbuchen, zusätzliche Ausreiseerleichterungen für deutschstämmige Polen im Zuge der Polen-Verträge 1976 durchgesetzt zu haben, die Aufnahme vietnamesischer Flüchtlinge 1978 als Signal an alle Bundesländer, es Niedersachsen gleich zu tun, das konsequente Festhalten an der Erfassungsstelle für DDR-Unrecht in Salzgitter, ein Konzept für eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik des Bundes 1983, das Strukturhilfeprogramm des Bundes gegenüber den Ländern 1988. Albrecht war Helmut Kohl immer loyal verbunden, wenn auch in kritischer Distanz. 1983, im Alter von 53 Jahren, lehnte er den Wunsch Kohls ab, als Bundespräsident zu kandidieren, weil er in dem in erster Linie repräsentativen Amt keinen politischen Gestaltungsspielraum sah. Die Einheit von CDU und CSU war ihm, der 1980 im Ringen um die Kanzlerkandidatur Franz-Josef Strauß unterlag, von höchstem Wert. Auch nach seiner aktiven Zeit in der Politik gab er, ohne sich aufzudrängen, in Bonn und in Berlin der Union Rat und suchte zu vermitteln, wo er dies für angebracht und angemessen hielt. Der Fall der Mauer war für ihn das größte politische Geschenk. Nach dem Regierungswechsel in Hannover 1990 engagierte er sich in Thale im Ostharz mit großem Erfolg bei der Umstrukturierung des dortigen Stahlwerks in leistungsfähige Autozulieferbetriebe. Den Premierminister von Kirgisistan beriet er beim Aufbau rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Strukturen. Mit dem langjährigen CDU-Vorsitzenden Wilfried Hasselmann, der ihn 1970 in die Politik geholt hatte, verband Albrecht bis zu dessen Tod 2003 eine tiefe Freundschaft – etwas in der Politik eher Ungewöhnliches. Albrecht, der selbst den Wechsel von der Wirtschaft in die Politik vorgelebt hatte, stand dem wachsenden Heer von Berufsparlamentariern äußerst kritisch gegenüber. Die politischen Entscheidungen des überzeugten Europäers, der vor seiner Zeit in Niedersachsen in den 50er und 60er Jahren eine beispiellose Karriere in Brüssel bis zum Generaldirektor für Wettbewerb gemacht hatte, waren von der Überzeugung geprägt, dass Politik nur dann auf größtmögliche Akzeptanz stößt, wenn politische Entscheidungen dort fallen, wo sie hingehören: möglichst ortsnah. Denn, so sagte er oftmals, „Humanität verlangt Personalität“. Die wachsende Regulierungsdichte und die ständige Stellenvermehrung in der öffentlichen Verwaltung waren ihm ein Gräuel. Er selbst übergab die Regierungszentrale in Hannover 1990 sehr schlank mit nur 115 Mitarbeitern – ein seitdem nicht mehr gekannter Wert. Humane Siedlungsstrukturen, attraktive Lebensbedingungen auch im ländlichen Raum, die flächendeckende Versorgung mit Sozialstationen – Ernst Albrecht war geprägt von einer tiefen christlichen Überzeugung, die in der Familie, im Zusammenhalt und in der Erziehung zwingende Voraussetzungen für den Erhalt einer freiheitlichen, sozialen und humanen Ordnung sah. Die Bewahrung der Schöpfung, die Verbindung von Mensch und Natur waren ihm eine Herzensangelegenheit. Sie zog sich wie ein roter Faden durch sein Regierungshandeln, vom Storchenprogramm über das Moorschutzprogramm bis zum Nationalpark Wattenmeer. Ernst Albrecht war ein Humanist von hohen Graden. Er hat dieses Land mit Weitblick und Beharrlichkeit regiert und Weichen gestellt, die auch heute noch unter seinem sechsten Amtsnachfolger das Land im besten Sinne nachhaltig prägen. Niedersachsen hat Ernst Albrecht viel zu verdanken. Wir haben allen Grund, uns vor einem großen Staatsmann und außergewöhnlichen Menschen zu verneigen.